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Musik

Nahrung  für die Seele

Nahrung für die Seele

Aug 24
Der Sommer 1969 steht für drei Tage voller Frieden und Musik: das Woodstock-Festival. Vom 15. bis 18. August erlebten eine halbe Million Blumenkinder auf einem Acker im US-Bundesstaat New York ein "spirituelles Ereignis von biblischem Ausmaß". Olaf Neumann sprach mit Menschen, die dabei gewesen sind.

Die Luft riecht nach Schweiß, nach Schlamm, Marihuana, Erbrochenem, Duftölen, Urin und durchgebrannten Verstärkern. Über zertretenen Gänseblümchen weht Musik und mit ihr die Stimmen hunderttausender friedensbewegter Rockfans. Überall tanzen, singen, schlafen oder schreien halbnackte Hippies, manche liegen sich in den Armen, andere machen ungeniert Liebe, etliche sind auf einem LSD-Trip und nehmen nur noch bunte Muster wahr. 
Als am Sonntag der Morgen dämmert, legt Nick Ercoline zärtlich eine Decke um sich und seine Freundin Bobbi. Zu den Füßen des Lockenkopfes und der Blondine schläft Corky. Er hat die beiden frisch verliebten 20-Jährigen im Auto seiner Mutter mitgenommen. Als der Magnum-Fotojournalist Burk Uzzle zufällig an dem Trio vorbeikommt, drückt er geistesgegenwärtig auf den Auslöser - nichtsahnend, dass sein Bild zu einer Ikone der Gegenkultur werden sollte. Ein dreiviertel Jahr später ziert es nicht nur das Cover des millionenfach verkauften Woodstock-Live-Albums, sondern auch das Plakat des Oscar-prämierten Dokumentarfilms von Michael Wadleigh.
„Auf dem Acker sollen offiziell 450.000 Besucher gewesen sein“, erzählt Nick, der inzwischen 75 Jahre alt ist. Bobbi ist 2023 verstorben. „Aber die meisten wissen nicht, dass zusätzlich eine Million Menschen versuchten, dort hinzugelangen.“ Der bekiffte Elliott Tiber (†2016) hatte bei einer Pressekonferenz irrtümlicherweise Woodstock zu einem Gratisfestival erklärt. Die meisten steckten irgendwo im Umkreis von 30 Kilometern fest. „Als wir mit unserem Chevrolet partout nicht mehr weiter kamen, hielten wir direkt neben einem Fahrzeug der Bundespolizei – und einer von uns rauchte tatsächlich gerade einen Joint. Uns war bewusst, dafür konnte man fünf Jahre Knast kriegen. Aber die Polizei ließ uns erstaunlicherweise in Ruhe". 
Wäre es nach dem damaligen Gouverneur von New York, Nelson Rockefeller, gegangen, hätte Woodstock gar nicht stattgefunden, erzählt Ercoline. „Er rief den Milchbauern Max Yasgur an, um ihm zu sagen, er solle seinen Boden auf keinen Fall an die Hippies verpachten. Der Gouverneur drohte dem Verwaltungschef von Sullivan County damit, die Nationalgarde zu schicken, um die Hippies rauszuschmeißen. Der Beamte war jedoch cleverer als Rockefeller und erklärte ihm, dass es dann Tote geben würde. Er sagte, es werde schon gutgehen. Und er sollte recht behalten!“
Henry Diltz durfte das Festival offiziell dokumentieren. Er war insgesamt zwei Wochen auf dem Areal, hat den Aufbau der Bühne und anschließend Jimi Hendrix, The Who, Santana, Joan Baez, CCR, Janis Joplin, Grateful Dead, Joe Cocker und Jefferson Airplane fotografiert. Der mittlerweile 85-Jährige erinnert sich noch gut an den einstündigen Auftritt von Crosby, Stills, Nash & Young am 18. August 1969 um drei Uhr morgens. „Während des Konzerts verließ ich die Bühne und ging zur Hog Farm (eine Hippie-Kommune, Anm.) auf dem Campingplatz. Es war dunkel, als ich zurück zur Bühne ging, und ich hatte 400.000 Menschen vor mir. In diesem Moment hörte ich Moderator Chip Monck sagen: "Ladies and Gentlemen, please welcome: Crosby, Stills, Nash and Young. Dann musste ich den ganzen Weg nach unten durch all diese Leute gehen. Aber ich kam an und die Band war großartig. Das erste Lied begann Stephen Stills mit seiner Gitarre ganz allein vor diesen 400.000. Als die anderen drei mit ihren Harmoniestimmen hinzukamen, klang es so schön. Ich habe es einfach geliebt“. 
Als Jimi Hendrix anfing, die amerikanische Nationalhymne „Star Sprangled Banner“ zu spielen, stand Henry Diltz auf der Bühne direkt neben ihm. Er wunderte sich, wozu er das denn spiele. „Denn es war ihr Lied, die offizielle Hymne, und wir Hippies waren gegen diese Leute. Das war nicht unser, sondern ihr Lied. Warum sollte Jimi das spielen?“
Später dämmerte es ihm: „Vielleicht hat er die Hymne ja zurückverlangt. Dass sie also auch zu unserem Lied wurde. Das zu hören, war so toll. Es war wirklich der beste Moment in Woodstock. In unserer Geschichte haben wir die amerikanischen Ureinwohner, die so genannten Indianer. Die Regierung hat damals versucht, sie zu töten. Und auch die Menschen in Vietnam. Deshalb waren wir Hippies gegen das Establishment. Jimi hat nie gesagt, warum er die Nationalhymne gespielt hat. In einer Fernsehsendung wurde er gefragt, ob er Angst hatte, sie zu spielen. Er sagte: ‚Ich weiß es nicht. Ich dachte, es sei einfach ein schönes Stück’. Genau deshalb hat er sie gespielt.“
Zu diesen Native Americans gehört Rickey Medlocke, Angehöriger der Stämme Lakota Sioux und Cherokee und seit 30 Jahren Gitarrist bei den Southern Rockern von Lynryd Skynryd. Der heute 74-jährige erinnert sich gern daran, wie er am Morgen des 18. August in einem klatschnassen Schlafsack aufwachte, weil er jemanden das "Star Sprangled Banner" spielen hörte. „Ich stand auf uns sah Jimi Hendrix auf der Bühne. Jeder Musiker, der in Woodstock war, wird bestätigen, dass dieses Ereignis sein Leben verändert hat.“ Für Medlocke ist das Gelände heiliger Boden. „Dort, wo heute das Amphitheater steht, war 1969 die Bühne. Unser Drummer Michael hat mich dabei fotografiert, wie ich genau an der selben Stelle stand, wo ich als junger Mann Jimi Hendrix zugesehen habe. Das war sehr aufregend wegen all der Erinnerungen. In dem Moment hatte ich wieder den Lärm im Ohr, den das Woodstock-Publikum gemacht hat, als Hendrix und die anderen spielten.“
Rickey Medlocke ist fest davon überzeugt, dass Woodstock Amerika kulturell verändert hat. „Die Rockbands, die in Woodstock spielten, hatten einen ganz neuen Stil. Natürlich ist das Festival Geschichte, aber die Musik von damals lebt noch“. 
Walter Trout, 73, heute selbst ein international gefragter Bluesgitarrist, ist ebenfalls als Zuschauer dabei gewesen. „Canned Heat waren großartig, aber nicht, weil ich später bei ihnen mitgespielt habe. Ich liebte Mountain mit Leslie West und Janis Joplin. Nach ihrem Konzert bin ich hinter die Bühne gegangen, weil es weder Security noch Zäune gab. Wieder einmal war ich auf LSD - wie der ganze Rest des Publikums. Backstage lernte ich Janis persönlich kennen. Ich fand sie unglaublich. Auch CCR waren großartig. Eine Menge Leute sind nicht im Woodstock-Film zu sehen, wie die Keef Hartley Band mit dem Gitarristen Miller Anderson. Immer wenn ich ihn treffe, sage ich ihm, dass er mich bei Woodstock umgehauen hat. Dann setzt er ein breites Grinsen auf".
Das Schönste an Woodstock war für Nick Ercoline nicht vorrangig die Musik von Santana, Crosby, Stills, Nash & Young oder Jimi Hendrix, sondern das Wunder, dass es unter den Besuchern zu keinerlei Gewalt kam. Viele Hippies glaubten damals an den Beginn eines neuen Zeitalters voller Liebe und Frieden. Lediglich ein Besucher starb an einer Überdosis, und ein anderer wurde versehentlich von einem Traktor überfahren, während er in einem Kornfeld schlief. 
Elliott Landy, 82, ebenfalls offizieller Fotograf des Events, glaubt, Woodstock und der "Summer of Love" haben sich auf das Denken der Amerikaner ausgewirkt. „Die Leute fingen an, mehr und mehr in sich hineinzuhören und Momente der Achtsamkeit zu erleben. Sie begannen auch, sich mehr Gedanken über ihre Ernährung zu machen. Wenn man schöne Gedanken hat, wird der Geist klarer und das Leben glücklicher. Woodstock war Nahrung für die Seele“. 

Olaf Neumann

Bild: Woodstock-Fotograf Henry Diltz hat im Frühjahr 2024 den opulenten Bildband „CSNY: Love the one you’re with“ über die Woodstock-Legende Crosby, Stills, Nash & Young veröffentlicht. (Foto: Paul Stead)

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