Bewusst Leben

Es ist August, wir haben endlich Ferien die Sonne scheint, die Kinder planschen, der Grill glüht – und trotzdem knallt die Stimmung wie eine überreife Tomate gegen die Küchenwand. „Wieso liegen die Handtücher schon wieder mitten im Flur verteilt?“ „Immer stehe ich mit den Kindern auf, ich würde einmal gerne ausschlafen.“ „Ich brauche einfach mal 30 Minuten meine Ruhe!“

Herzlichen Glückwunsch, ihr seid sind im Urlaub angekommen – egal ob auf Balkonien, im Campervan oder im dänischen Traumhaus. Der Familienurlaub – ersehnt wie ein Lottogewinn, geplant wie eine dreimonatige Exkursion in die Antarktis – bringt oft nicht die erhoffte Entspannung, sondern Eskalationen auf engstem Raum. Und genau darum geht es: Enge. Nähe. Zusammensein. Und der schmale Grat, auf dem Nähe ins Zuviel kippen kann.

Der Nähe-Kollaps

In meiner Praxis spreche ich mit vielen Paaren, die sich nach „mehr Zeit miteinander“ sehnen – und dann, kaum gibt es diese Zeit, an genau ihr zu scheitern drohen. Das klingt paradox. Ist es aber nicht. Der Alltag bietet geniale Fluchtpunkte: Arbeit, Hobbys, Bildschirmzeit. Im Urlaub hingegen wird der Beziehungsraum plötzlich zur Dauerveranstaltung. Keine Flucht. Keine Tür, die man hinter sich schließen kann, wenn es knirscht. Keine Freunde oder Familie zu denen man sich flüchten kann um beim Umzug zu helfen oder mal fix den neuen Pizzaofen zu testen. Dafür: kleine Menschen mit hohen Bedürfnissen, zu wenig Wein, zu viele Erwartungen – an den PartnerIn, an das Wetter, an den perfekten Sonnenuntergang oder die ultimative Urlaubserinnerung.

Psychologie der Enge

Aus psychologischer Sicht lässt sich dieses Phänomen gut erklären: Wir Menschen haben

ein sogenanntes individuelles Nähe-Distanz-Bedürfnis, das nicht statisch ist – und das sich besonders unter Stress verändern kann. In vertrauten Beziehungen steigt in belastenden Situationen oft das Bedürfnis nach Rückzug, um sich zu regulieren. Doch wenn der Raum fehlt – emotional wie räumlich – kommt es zum inneren Stau. Und aus diesem Stau heraus kann oft Überforderung und Anspannung entstehen.

Interessanterweise reagieren viele von uns dann nicht mit einem „Ich brauche gerade Zeit für mich“, sondern mit: Angriff, Schweigen, Rückzug ins Smartphone oder passiv-aggressivem Türenknallen. Das sind keine schlechten Manieren – das sind häufig Notlösungen für Menschen, die nicht gelernt haben ihre Bedürfnisse wahrzunehmen und zu kommunizieren.

Nähe muss verhandelt werden – auch im Urlaub

Paartherapie bedeutet oft genau das: Nähe neu verhandeln. Die Vorstellung, dass Liebe bedeutet, immer alles zusammen machen zu wollen, ist romantisch – aber in der Realität schlicht nicht immer zielführend. Gute Beziehungen erlauben sich auch Abstand und vorallem brauchen sie liebevolle, sowie schonungslose Ehrlichkeit, sowie ein Gegenüber das diese lernt auszuhalten. Und ja, das gilt auch im Urlaub. Ein 15qm-Zimmer oder ein Wohnmobil mit zwei Kindern und einer Küchenzeile ersetzt keine emotionalen Rückzugsräume. Wer als Paar bestehen will, darf Grenzen ziehen lernen – und zwar ohne schlechtes Gewissen oder das Gefühl von „Es geht nur mir so, dass der Familienurlaub zur Zerreißprobe wird.”

Das kann konkret bedeuten:

· Dass jeder mal für sich etwas macht. 

· Auch betreute Kinderaktivitäten sind erlaubt, auch Kinder brauchen mal Eltern-frei!

· Dass man sich nicht 24/7 unterhalten muss.

· Oder sogar: dass man sich eine halbe Stunde lang einfach ignorieren darf, ohne  dass gleich die Welt untergeht. 

· Pizza-Service gibt's überall. Zückt das Handy und spart euch den Abwasch!

Schluss mit der Urlaubslüge

Ich wünsche mir eine neue Ehrlichkeit, was Ferien angeht. Eine, die sagt: „Wir lieben uns – aber zu viel Nähe stresst mich und wir brauchen auch mal Abstand.“ Und das ist okay. In der Paartherapie arbeiten wir daran, genau solche Sätze wieder sagbar zu machen. Denn, wenn man etwas sagen darf und einem dabei wirklich zugehört wird, muss man es nicht mehr herausschreien. Also, liebe Singles, Paare, Familien: Wenn es im Ferienhaus brennt – bedeutet das nicht, dass eure Beziehung oder die neue Bekanntschaft im Eimer ist. Es bedeutet vielleicht nur, dass ihr gerade zu wenig Raum habt und die Erwartungen größer sind als das, was ihr aktuell leisten könnt. Und vielleicht braucht ihr keinen neuen Urlaubsort. Sondern einfach neue Regeln für Nähe, Freizeit und schonungslos ehrlichen Austausch auf Augenhöhe.

www.annaelisekuhn.com