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Kulturgutzerstörung mitten in Rostock
Jun 21
Bauinvestor zerstört mutwillig Bodendenkmale, Behörden vertuschen, Stadtgesellschaft fordert politische, juristische und personelle Konsequenzen.
Im Vorfeld der Bauarbeiten auf dem zweiten Bauabschnitt Glatter Aal zwischen Runge- und Buchbinderstraße stieg die Vorfreude auf archäologische Grabungen. Experten versprachen interessante Funde und spannende Erkenntnisse. Das all dies zu erwarten war, hatten Ausgrabungen auf Nachbargrundstücken bewiesen. Wir lernten, dass Brunnen nach der Einführung der Wasserversorgung zu Latrinen umgewandelt wurden, die sich dann allmählich mit menschlichen Abfällen füllten. Der eine oder andere Gegenstand landete hier unabsichtlich: ein Kristall zum Beispiel, der als Lupe zum Lesen diente. Die Latrinen funktionieren für Archäologen wie die Jahresscheiben von Bäumen. Die Überreste erzählen, was in einem bestimmten Jahr vorwiegend auf dem Speiseplan stand, ob es Hungersnöte oder Krankheiten gab.
Also, die Vorfreude auf die archäologischen Grabungen war groß, als der neue Bauabschnitt endlich angegangen wurde. Das Kloster Bad Doberan hatte hier eine Außenstelle unterhalten. Die Gebäude datierten zurück bis ins 13. Jahrhundert.
Statt Archäologen rückten im Januar 2021 Bagger an – Großgerät. Die Baustelle war mit einem blickdichten Zaun umgeben. Und dann ging es los. Von morgens 7 Uhr bis abends 19 Uhr wurde weggebaggert. Auf der Baustelle türmten sich riesige Feldsteinberge. Jeden Tag ein Dutzend Schwerlasttransporter, die den Abraum abfuhren. Am 19. März berichtete die OZ über die mögliche Zerstörung von Bodendenkmalen. „Es werden zunächst nur die obersten Schichten abgetragen“, so die zuständige Amtsleiterin Michaela Selling gegenüber der OZ. Selling log offenbar. Mit dem Investor lag die Stadt und ihre Behörde längst im Rechtsstreit.
Am 25. März erreichte die Presse ein offener Brief Rostocker Bürger und Bürgerinnen. Der Zahnarzt Manfred Krohn hatte mehr als 60 Unterschriften organisiert. Am selben Abend fertige MV1 erste Aufnahmen an und befragte Experten. Es war klar, auf der Baustelle wurden massiv Bodendenkmale zerstört. Krohn und andere Rostocker erstatteten Anzeige bei der Unteren Denkmalbehörde. Bis heute gibt es keine Antwort.
Am 30. März verkündete die OZ einen „Sensationsfund. Uralter Brunnen entdeckt“. Randalswood hatte ein Bodendenkmal gefunden. Laut Landesdenkmalschutzgesetz muss dieser Umstand angezeigt werden. Wieder log die Amtsleiterin Michaela Selling: „Findlinge sind im Stadtgebiet überall zu finden und müssen nicht von früheren Bauwerken stammen.“ Archäologen widerlegten Selling sofort. Längst war Randalswood in mehr als drei Meter Tiefe vorgedrungen und hatte gerade an den Straßenzügen die gesamten Baustrukturen zerstört.
Manfred Krohn initiierte mit Mitstreitern eine Online-Petition. MV1 berichtete fortlaufend. Immer wieder der Verweis von Selling über den Pressesprecher der Stadt, der Investor habe sich „gesetzteskonform“ verhalten. Eine weitere Lüge. Ein Beschluss des Oberlandesgerichts Greifswald vom 21. April 2021 führt aus, dass es nicht rechtskonform war, archäologische Grabungen zu behindern.
Das Verbrechen an Rostocks Kulturgütern muss aufgearbeitet werden: politisch, juristisch und personell. In der Rostocker Bürgerschaft wurde inzwischen ein Antrag eingebracht, der die Verwaltung beauftragt, Grabungsschutzgebiete zu prüfen. Die gesamte historische Innenstadt wäre so vor mutwilliger Zerstörung von Bodendenkmalen geschützt.
THOMAS BÖHM
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