Campus Rostock
„KI zwingt uns, menschlicher zu werden“
Dez 25
Künstliche Intelligenz verändert, wie wir lernen, denken und arbeiten. Doch während viele Bildungseinrichtungen noch um ihre Rolle im digitalen Wandel ringen, hat Boris Walbaum, Mitgründer und Präsident des Forward College in Paris, Lissabon und Berlin, längst gehandelt. Mit seinem Buch Education.AI und einem radikal neuen Hochschulmodell plädiert er dafür, Bildung neu zu denken – als Raum für menschliche Tiefe in einer technologisierten Welt. Ein Gespräch über die Zukunft der Universitäten, warum sich vor allem junge Frauen für das Studium am Forwad College entscheiden und was Maschinen (noch) nicht können.
0381-Magazin: Herr Walbaum, Sie schreiben, dass traditionelle Universitäten Gefahr laufen, überholt zu werden. Warum?
Boris Walbaum: Es gibt ein hohes Risiko, dass Universitäten, wie wir sie kennen, ihre Relevanz verlieren. Schon Anfang der 2010er-Jahre wurde das Ende der Hochschulen prophezeit – damals durch allgegenwärtige Online-Kurse. Passiert ist seitdem allerdings wenig. Das zeigt, wie widerstandsfähig Universitäten sind – aber auch, wie unbeweglich. Ich habe in den vergangenen Jahren mit vielen Universitäten zusammengearbeitet und sehe dort enorme strukturelle Trägheit, verursacht durch Regulierungen, Governance-Fragen und ein System von Rankings, das Innovation eher hemmt als fördert. Jetzt, da die Generative KI auf eine ohnehin hitzige Debatte über das Preis-Leistungs-Verhältnis von Universitäten in den USA und auf die Erfahrungen der Pandemie trifft, geraten viele Hochschulen tatsächlich unter Druck. Einschreibungen gehen zurück, und Studierende stellen den Wert eines klassischen Studiums zunehmend infrage. Universitäten müssen entschlossener reagieren, wenn sie nicht den Anschluss verlieren wollen.
0381-Magazin: Manche sagen, dass klassische Studienabschlüsse bald überflüssig werden – ersetzt durch modulare Lernpfade, KI-Tutoren und Skill-Stacking. Teilen Sie diese Prognose?
Walbaum: Teilweise. KI wird Hyper-Personalisierung und Mikroabschlüsse ermöglichen, das ist sicher. Aber mein Buch beschreibt ein Paradox: Je technischer und modularer das Lernen wird, desto mehr brauchen wir Räume für echte menschliche Interaktion. „Deep Skills“ wie Urteilsvermögen, Resilienz, Kreativität oder Empathie entstehen nicht am Bildschirm, sondern im Miteinander. Die Zukunft der Bildung ist hybrid: KI hilft uns, Grundlagen effizient zu vermitteln, aber tiefes Lernen braucht Gemeinschaft, Austausch und Beziehung. Es wird also darauf ankommen, Schulen und Universitäten
zu Orten der Zugehörigkeit und intensiven Interaktion zu machen – anstelle von Räumen, in denen Wissen top-down vermittelt wird, was KI ohnehin besser kann.
0381-Magazin: Wie setzt Forward College diese neue Idee von Bildung konkret um?
Walbaum: Forward College verkörpert den Wandel, den ich in meinem Buch Education.AI beschreibe. Unser Ansatz verbindet drei Dimensionen, die für eine zukunftsfähige Bildung entscheidend sind: Erstens das „Flipped Learning“ – Studierende erarbeiten Inhalte über KI-gestützte Plattformen, sodass die Präsenzzeit für sokratische Seminare, Diskussionen und persönliches Mentoring genutzt werden kann. Zweitens die Entwicklung aller menschlichen Intelligenzen – nicht nur der kognitiven, sondern auch der sozialen, emotionalen und praktischen. Unsere Studierenden lernen nicht nur gemeinsam, sie leben auch zusammen, teilen Küchen, arbeiten in Teams und wachsen an realen Projekten. Drittens fördern wir etwas, das man in klassischen Lehrplänen kaum findet: den Mut, sich auf Neues einzulassen. Jedes Jahr verbringen unsere Studierenden in einer anderen europäischen Hauptstadt – Lissabon, Paris, Berlin – und lernen, mit kultureller Vielfalt und Unbekanntem umzugehen. Dieses Modell bildet Absolvent:innen aus, die KI souverän nutzen, menschliche Tiefe zeigen und den Mut besitzen, sich auf Neues einzulassen – genau die Qualitäten, die es in einer unsicheren, schnelllebigen Welt braucht.
0381-Magazin: Künstliche Intelligenz ist längst im Klassenzimmer angekommen. Welche Gefahren sehen Sie, wenn Lernen zunehmend von Algorithmen begleitet wird?
Walbaum: Ich denke, Eltern sollten Kinder nicht unbeaufsichtigt mit Sprachmodellen wie ChatGPT arbeiten lassen, bevor sie die Oberstufe erreichen. KI in der Bildung ist ein zweischneidiges Schwert. Sie eröffnet enorme Chancen, birgt aber auch ernsthafte Risiken. Das erste ist eine Art kognitive Atrophie: Wenn junge Menschen das Denken an Maschinen auslagern, verlieren sie die Fähigkeit, selbstständig zu schreiben, zu analysieren und Probleme zu lösen. Das Zweite ist der Überwachungskapitalismus: KI beobachtet Lernprozesse, erstellt psychologische Profile und kann Verhalten manipulieren oder sogar monetarisieren. Dann gibt es die menschliche Entfremdung – wenn Chatbots zu „Freunden“ werden oder KI-Tutoren Lehrkräfte ersetzen, geht die Fähigkeit zu echten Beziehungen verloren. Und schließlich entsteht eine erlernte Hilflosigkeit: Wer Entscheidungen dauerhaft an KI delegiert, verliert das Vertrauen in die eigene Urteilskraft. Diese Risiken sind keine Zukunftsszenarien – sie passieren schon heute, überall auf der Welt.
0381-Magazin: Wie stellen Sie sicher, dass genau das am Forward College nicht passiert?
Walbaum: Wir haben KI sehr früh und sehr bewusst eingeführt, um sie verantwortungsvoll in den Lernprozess zu integrieren. Seit April 2023 erhalten alle Studierenden über unseren AI Hub Zugang zu führenden Systemen wie ChatGPT+, Gemini Pro, Claude und Perplexity inklusive unserer eigenen KI-Tutoren. Dort lernen sie, KI gezielt, reflektiert und kreativ einzusetzen. Gleichzeitig sichern wir die Integrität unserer Prüfungen – klassische Take-Home-Assessments gibt es nicht mehr. Stattdessen trainieren wir unsere Studierenden im sinnvollen Umgang mit KI und haben ein AI-Dashboard entwickelt, das zeigt, wie sie KI im Lernprozess nutzen: ob als Unterstützung oder als Krücke. Der sogenannte Offloading-Index verdeutlicht, wie viel an die Maschine delegiert wurde. Das motiviert, KI bewusst und effektiv zu verwenden. In unserem neuen Open-Bachelor-Programm erlauben wir bei einem Drittel der Prüfungen den Einsatz von KI – allerdings mit klaren Regeln: höhere Anforderungen, ein reflektierendes AI-Journal, das bewertet wird, und eine mündliche Prüfung, um sicherzustellen, dass die Studierenden ihr Werk wirklich verstehen.
0381-Magazin: Wie zeigt sich dieser neue Lernansatz im Studienalltag am Forward College?
Walbaum: Bei uns lernen Studierende von Anfang an anders. Inhalte erarbeiten sie selbstständig über KI-Tutoren – die gemeinsame Zeit ist für das reserviert, was Menschen besser können: diskutieren, kreativ denken, zusammenarbeiten. Keine Hörsäle, sondern kleine Gruppen mit rund 15 Studierenden. Dazu kommt unser nomadisches Programm: Jedes Jahr leben die Studierenden in einer anderen europäischen Hauptstadt – Lissabon, Paris, Berlin. Begegnung mit Fremdem stärkt Anpassungsfähigkeit und kulturelle Intelligenz. Auch das Bewertungssystem ist anders. Wir prüfen nicht nur Wissen. Unser 360°-Feedback erfasst alle vier menschlichen Intelligenzen – kognitiv, sozial, emotional, praktisch. Rückmeldungen kommen von Professor:innen, Kommuliton:innen, Praktikumsbetreuer:innen – und sogar aus dem familiären Umfeld. Auf dieser Basis erstellen die Studierenden eigene Entwicklungspläne. Bewertung ist bei uns Formung statt Urteil: weniger Selektionsmechanik, mehr persönlicher Fortschritt.
0381-Magazin: Was war auf Ihrem bisherigen Weg die größte Herausforderung?
Walbaum: Eine internationale Reputation aufzubauen, ist kein Sprint, sondern ein Marathon. Geduld ist entscheidend. Wir setzen auf organisches Wachstum – und auf Vertrauen. Unser stärkster Rekrutierungskanal ist heute das persönliche Weiterempfehlen: Studierende, Eltern, Alumni, Partner. Das braucht Zeit, ist aber das beste Zeichen, dass unser Ansatz überzeugt.
0381-Magazin: Wo steht das Forward College heute – in Bezug auf Wachstum und Entwicklung?
Walbaum: Unser Wachstum beruht ausschließlich auf der Zunahme hochwertiger Bewerbungen. Für das Studienjahr 2025/26 haben wir rund 2.000 Bewerbungen erhalten und etwas mehr als 120 Studierende aufgenommen – wir wollen nicht möglichst viele, sondern die Richtigen. Inzwischen haben zwei Kohorten ihr Studium abgeschlossen, und das Resümee ist ermutigend: Rund die Hälfte der Absolvent:innen setzt ihre Ausbildung fort – drei Viertel davon an führenden europäischen Universitäten wie der LSE, HEC oder Bocconi. Unsere Studierenden kommen aus über 30 Ländern, knapp 20 Prozent aus dem deutschsprachigen Raum. Besonders erfreulich finde ich, dass sich zunehmend junge Frauen für unser Modell entscheiden – etwa 70 Prozent der neuen Kohorte. Das zeigt, dass Bildung, die auf Verantwortung, Kreativität und soziale Intelligenz setzt, offenbar gerade für sie besonders anziehend ist. Auch die akademischen Ergebnisse bestätigen diesen Weg: Bei den externen Prüfungen der London School of Economics und des King’s College London bestehen 99 Prozent, 40 Prozent mit Bestnoten. Besonders stolz bin ich aber auf die Rückmeldungen unserer eigenen Studierenden: Über 85 Prozent sagen, dass sie sich durch unser Modell akademisch gefordert und persönlich unterstützt fühlen.
0381-Magazin: Und was wünschen Sie sich, dass man in zehn Jahren über das Forward College sagt?
Walbaum: Dass wir bewiesen haben, dass eine andere Bildung möglich ist – menschlicher, erfahrungsorientierter und besser an das KI-Zeitalter angepasst. Nicht unbedingt größer, sondern einflussreicher: ein Modell, das zeigt, wie Hochschulen in Zukunft aussehen können.
0381-Magazin: Zum Schluss: Wenn Sie Ihr Buch in einem Satz zusammenfassen müssten?
Walbaum: Bereitet eure Kinder nicht darauf vor, gegen KI zu kämpfen – sondern mit ihr und mit anderen Menschen Neues zu schaffen.
/*