Literatur
Der Klebstoff, der Deutschland zusammenhält – Wladimir Kaminer im interview
Dez 25
Mit viel Humor erkundet Wladimir Kaminer seit nunmehr 25 Jahren die deutsche Volksseele. Seine Geschichten haben einen ganz eigenen Sound. Der in Berlin und Brandenburg lebende Bestsellerautor russisch-jüdischer Herkunft schrieb Bücher über sein Leben im Kommunismus und seinen Neustart im Kapitalismus. Er erfand die legendäre „Russendisko“ (heute „Ukrainedisko“), brachte dem Leser auf charmant-witzige Art seine neue Heimat Berlin näher und beobachtete das Leben und Treiben in deutschen Gartenkolonien. In seinem neuesten Buch enthüllt der Meister der Realsatire das „geheime Leben der Deutschen“. Mit Wladimir Kaminer sprach Olaf Neumann.
0381-Magazin: Herr Kaminer, Ihr Bestseller „Russendisko“ wird 25. Wie wurden Sie zum Autor?
Wladimir Kaminer: In jedem zweiten Haus in Ostberlin bildeten sich im Zuge der Wende irgendwelche Diskussionsforen, Clubs, Bars oder Theatergruppen. Dort habe ich über lustige Sachen referiert. Zum Beispiel darüber, dass die Schriftsteller in der Sowjetunion eine eigene Kaste bildeten. Sie wurden alle im Schriftstellerverband gezählt. 30000 Autoren, die keine Sau kannte, aber sie hatten eigene Häuser, eigene Sanatorien, eigene Lebensmittelgeschäfte. 1995 bot mir ein taz-Redakteur eine Kolumne an. Ich fragte, worüber ich denn schreiben solle. Egal, meinte er, Hauptsache in deiner Art. Schreib doch über Weihnachten bei den Russen! Davon handelte meine erste Kolumne. Dann habe ich gemerkt, dass ich viele Geschichten vergesse, weil immer etwas neues kommt. Damit es nicht passiert, habe ich angefangen, sie aufzuschreiben. So entstand vor 25 Jahren mein erstes Buch "Russendisko".
0381-Magazin: Mit „Ich bin kein Berliner“ gelang Ihnen 2007 ein weiterer Bestseller. Wie kamen Sie darauf, einen Reiseführer ausgerechnet für faule Touristen schreiben zu wollen?
Kaminer: Ich wollte nicht bestimmte Orte, sondern die Atmosphäre Berlins in diesem Buch zu Papier bringen. Man muss gar nicht reisen, um Berlin kennenzulernen, das war die Idee. Dadurch wollte ich auch erreichen, dass weniger Touristen nach Berlin kommen. Das wäre gut für die Stadt. Ich wohne gegenüber vom Mauerpark, da werden Menschen mit Reisebussen hingefahren und starren dann andere Touristen an, von denen sie glauben, sie wären Berliner. Berliner im eigentlichen Sinne gibt's aber kaum mehr.
0381-Magazin: In Ihrem neuesten Buch „Das geheime Leben der Deutschen“ heißt es philosophisch: "Um die Welt zu verstehen, musst du nicht das Ende der Welt suchen, sondern die Stelle, wo sie anfängt". Ist das der Schlüssel zu den wahren Abenteuern?
Kaminer: Ich möchte nicht angeben, aber ich habe schon ein sehr besonderes Leben. Ich bin seit der Veröffentlichung von „Russendisko" sehr aktiv in Deutschland unterwegs. Ich besuche jährlich 120 bis 150 Städte. Und das seit 25 Jahren! Und immer wieder kommen neue dazu. Ich kenne niemanden, der so viel durch Deutschland reist und ins Gespräch kommt mit den Menschen. Ich habe auch Dokumentarfilme gemacht über deutsche Traditionen und Bräuche. Was ich alles gesehen habe, was ich erlebt habe, welche Ecken und welche Personen - all das musste ich einmal aufschreiben. „Das geheime Leben der Deutschen" zeigt dieses Land aus einer sehr eigenen Perspektive.
0381-Magazin: Zugereiste, die Sie bei der Recherche zum Buch trafen, empfinden Deutschland wahlweise als „absolutes Traumland", "perfektes Urlaubsland" oder als „Land von Rittern und schönen Damen".
Kaminer: Als ich darüber schrieb, habe ich mich schon gewundert, was für verrückte Vorstellungen die Ausländer von Deutschland haben. Aus welchen Romanen haben sie das nur? Aber inzwischen weiß ich, das alles gibt's wirklich. Ich war gerade unterwegs auf der deutschen Märchenstraße. Die beginnt in Hanau und endet in Bremen. Wie viele Burgen, Schlösser und tolle Ruinen es hierzulande gibt! Das kann kaum ein anderes Land bieten. Ich war auch auf dem Rapunzelturm am Reinhardswald. Ganz oben arbeitet Rapunzel in Teilzeit. Es kommen Touristen ohne Ende, vor allem aus China, um einmal mit Rapunzel ein Selfie zu machen und dann wieder zurückzufahren.
0381-Magazin: Sie haben mehrere Jahre lang Ihre Urlaube nur in Deutschland verbracht. Was macht die deutsche Seele aus?
Kaminer: Es wird immer so dargestellt, als sei „Russendisko" mein bislang größter Bestseller. Aber „Mein Leben im Schrebergarten“ hat sich in Deutschland noch besser verkauft. Und da ist wahrscheinlich die deutsche Seele zu Hause: In einem kleinen, ordentlichen Garten, wo keine Regierung, sondern eine einheimische Prüfungskommission das Sagen hat.
0381-Magazin: Sie schreiben über Hermann, den Cherusker, einst eine bedeutende Identifikationsfigur der Deutschen. Heute ist eher Udo Lindenberg eine Identifikationsfigur, nicht nur jugendlicher Rockfans.
Kaminer: Natürlich hat Deutschland wie jedes Land eigene Stars, jüngere und ältere. Aber am stärksten identifizieren sich die Leute nicht mit Stars, sondern mit ihrer kleinen Heimat. Ich war zum Beispiel bei Schuhplattlern und Dirndldrahn im tiefsten Bayern. Fragen Sie da mal nach Udo Lindenberg. Den kennen die nicht.
0381-Magazin: Welche Identifikationsfiguren gibt es dort?
Kaminer: Das sind eher Gegenstände. Etwa die Lederhosen des Urgroßvaters. Der Urgroßvater war zu seiner Zeit der beste Schuhplattler, weswegen Neugeborene immer Sepp genannt werden. Damit sie die Initialen auf den Lederhosen nicht umnähen müssen. Man darf die ja nicht kaputt machen.
0381-Magazin: In der 3Sat-Reihe „Kaminer Inside" und im neuen Buch machen Sie sich ein Bild vom Brauchtum. Im bayerischen Greimharting etwa haben Sie dem örtlichen Trachtenverein einen Besuch abgestattet. Wie erklären Sie sich die Auferstehung des Dirndls und der Lederhose gerade unter jungen Menschen?
Kaminer: Auf jeden technologischen Sprung folgt eine große Lebensveränderung. Seit der Entstehung der digitalen Welt rasen wir mit einer unglaublichen Geschwindigket in die Zukunft. Das geht viel zu schnell für die Menschen. Sie können ja nicht fliegen, sie brauchen schon Boden unter den Füßen. Deswegen suchen sie sich immer etwas, an dem sie sich festhalten können. Und wenn das Lederhosen sind.
0381-Magazin: Sie sind fasziniert von Volksfesten mit skurrilen Traditionen wie dem Dreckschweinfest in Hergisdorf. Warum feiern die Deutschen so gern „Orgien auf dem Land"?
Kaminer: Das sind keine Orgien, ich bitte Sie! Das ist das Dreckschweinfest in Hergisdorf bei Eisleben, das älteste Dreckschweinfest Europas. Dass Europa nichts davon weiß, ist sein Problem und nicht das von Sachsen-Anhalt. Die Leute dort haben mehrmals versucht, ihr Dreckschweinfest beim UNESCO-Weltkulturerbe anzumelden. Aber die UNESCO-Delegation kam immer zu spät dahin. Bei deutschen Traditionsfesten muss man halt zeitig da sein.
0381-Magazin: Können Sie die Faszination der Deutschen für ihre Traditionen nachvollziehen?
Kaminer: Jeder hat heutzutage sein eigenes Internet, seine eigene Musik im Telefon. In dieser Zeit ist es von großer Wichtigkeit, dass Menschen rauskommen und sich mit anderen an einen Tisch setzen. In diesem Buch beschäftige ich mich auch mit der Frage, was die Menschen noch zusammen bringt. Zum Dreckschweinfest kommen Leute eigens zurück in die Heimat, wo sie seit Jahren schon nicht mehr leben. Einfach nur, weil sie bei ihrem eigenem Fest dabei sein und mit den Nachbarn zusammen in das Schlammloch springen müssen.
0381-Magazin: Das erinnert an das Wacken Open Air. Dort strömen Tausende Heavy Metal-Fans in den schlammigen Bereich vor den Bühnen.
Kaminer: Lachen sie dabei oder sind sie ernst?
0381-Magazin: Sie lachen dabei.
Kaminer: Okay, das ist etwas anderes. Weil das Dreckschweinfest schon eine ernste Angelegenheit ist. Es geht dabei um die Vertreibung von Winterdämonen. Was denken Sie, warum die Jahreszeiten überhaupt noch funktionieren in einer Welt, wo sonst nichts mehr funktioniert. Es funktioniert nur dadurch, dass da Menschen in Hergisdorf zeitig in ein Schlammloch springen.
0381-Magazin: Was hält Deutschland im Innersten zusammen?
Kaminer: Das ist eine interessante Frage. Ich glaube, dass gerade diese Vielfalt Deutschland zusammenhält. Der Umstand, dass man sich ständig vergleichen kann. Wenn es zwischen Sachsen, Rheinländern und Friesen keinen Unterschied geben würde, könnte dieses Land nicht existieren. Aber gerade dadurch, dass so unterschiedliche Kulturen neben- und miteinander leben, entsteht der Klebstoff, der Deutschland zusammenhält. Ein super interessantes Land!
0381-Magazin: Wo ist Deutschland aus Ihrer Sicht am exotischen?
Kaminer: Wahrscheinlich im tiefsten Norden, wo die Menschen die meiste Zeit ihres Lebens aufs Wasser schauen. Ich mag dieses Insel-Deutschland, die kleinen Inseln in der Nord- und Ostsee, weil die Leute dort sehr entspannt sind. Die haben eine Haltung, als wäre ihnen wirklich alles egal. Am wenigsten verstehe ich Menschen in Niederbayern, weil es für mich ein sehr schwerer Dialekt ist. Ich habe mich dort einmal eine Stunde lang über Musik unterhalten, und das einzige Wort, das ich verstanden habe, war "Rolling Stones".
0381-Magazin: Versuchen Sie mit Ihrem Schreiben auch die „russische Seele" zu erfassen?
Kaminer: Also, von dieser geheimnisvollen russischen Seele habe ich erst in Deutschland gehört. Es gab hier schon früher solche falsche Russen wie den Sänger Ivan Rebroff, die große Popularität besaßen. Das war ein schnurrbärtiger Mann, und er sang „Gieß mir einen Wodka ein, aber nicht zu klein. Hey!" auf Deutsch und hieß eigentlich Hans Rippert. Aber das hat niemanden gestört. Die Russen selbst sehen sich nicht so geheimnisvoll, sondern ähnlich wie in Deutschland, alt, eine alternde Nation. Putin ist jetzt schon über 70. Egal wie gut seine Gene sind, ein ewiges Leben wird er nicht bekommen. Und ohne ihn wird dieses Regime keine Fortsetzung haben. Was kommt danach? Das Schlimme an den Autokratien ist, dass sie immer im Chaos enden. Es gibt keine Antwort auf die Frage, was nach Putin kommt. Es kann keine Nachfolge zu Lebzeiten geben. Das ist wie ein Sprung von einem Felsen in die Dunkelheit.
0381-Magazin: Wenn Sie die allgemeine Grundstimmung in diesem Land in einen Satz fassen müssten, welcher wäre das?
Kaminer: Alles ist kaputt, nichts funktioniert hier – von Impfungen bis Demokratie, und das Bier wird immer teurer. Die Menschen meckern gern und zu recht auch. Aber das ist eine vorübergehende Erscheinung. Ich glaube, wir sollten uns ein bisschen entspannen. Es wird schon werden.
07.12.2025 · 20.00 Uhr · Audimax
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