Uwe Tellkamp, Ingo Schulze, Erich Loest schrieben ihn – den Wenderoman. Auffällig in diesen Romanen ist, dass fast ausschließlich vom verfolgten, inhaftierten und traumatisierten Bildungsbürgertum im "Arbeiter- und Bauernstaat" die Rede ist. Die Literatur berichtet von heroischem Denken und Handeln gegen die totalitäre DDR. Oder von Opfern des Systems. Waren die Gefängnisse voll mit LehrerInnen, MalerInnen, DichterInnen und DenkerInnen, während der Mann und die Frau vom Dieselmotorenwerk stumm und angepasst arbeiteten? Der Eindruck könnte entstehen. Folgt man der Berichterstattung zum Jubiläum "Mauerfall", gab es die angepassten Intellektuellen, die, welche sich arrangierten kaum. Und die Arbeiter und Bauern? Sie werden zu Statisten ihrer eigenen Geschichte.
Nun, das "Letztes Schweigen" von Volker H. Altwasser ist anders. Privilegiert sind seine Protagonisten nicht. Keine Großstadt, dafür ein Dorf, keine Villa, dafür ein Hof, keine offene Rotweinrunden mit Hausmusik, dafür versteckte Schnapsflaschen und keine Gespräche über Kommunismus und Gott, dafür Schweigen. Es erzählt vom Leben in der DDR. Um mit den Worten der Westfeuilletonisten zu sprechen, also ein Vorwenderoman.
Das Manuskript wurde nominiert für den Alfred Döblin Preis 2009. Das ist schon was. Rund 400 Einsendungen unveröffentlichter Prosawerke, sechs Nominierte. Zu den Auserwählten gehörten Zsuzsa Bánk, die mit ihrem leis-poetischem Debütroman "Der Schwimmer" bekannt wurde und der verehrte Autor Thomas Hettche, der mit seinem Sinn suchenden Roman "Woraus wir gemacht sind" 2006 fast den deutschen Buchpreis abräumte. Außerdem nominiert waren Harriet Köhler, Michael Roes, Eugen Ruge und der Rostocker Volker H. Altwasser.
An dieser Stelle sei ein kurzer Abstecher zur Veranstaltung Prosanova ins M.A.U. gestattet. Komödiantisch wurde das Fehlen von AutorenInnen in M-V beklagt. Immerhin ist zum Beispiel die Benn -Biographie "Der Sound der Väter" von Helmut Lethen hier entstanden, Stefan Maelck hat zumindest in Rostock studiert und mit der netten Satire "Pop essen Mauern auf" auch ein Wenderoman geschaffen. Andreas Möller, 1974 geboren und in Rostock aufgewachsen, lebt jetzt natürlich in Berlin. Bert Koß, Drehbuchautor, ist geblieben. Und Volker H. Altwasser ist Wahlrostocker. Einige Autoren, besonders berühmte, haben die Vorteile in M-V ("da wo andere Urlaub machen" oder "Oben ankommen") sehr wohl erkannt und sich in abgelegenen Waldgebieten ein kleines Sommerhäuschen zugelegt, mit Seeblick. Thomas Brussig zum Beispiel, schätzt die frischen Eier vom sturen Bauern. Mit "Helden wie wir" schrieb er einen Roman, welcher die DDR der Lächerlichkeit preisgab, damit wir uns alle ein bisschen lockern. Verfolgt man das Erscheinen von so genannten Wenderomanen, lässt sich fast ein psychologisches Muster erkennen. Wer schafft es als erstes die Euphorie des Herbstes 1989 in einem Roman auferstehen zu lassen? In allen Feuilletons wurde er heraufbeschworen, der Roman zum geschichtlichen Ereignis. Gleich 1989. (Schreib doch mal ein Buch über die Wende, in zwei Wochen.) Aber nach all der herausgelassenen Hassliebe und der Euphorie und den Tränen an der Mauer und im Wartburg- kam erst einmal das Schweigen, die Stille. Wie ein Kokser hatten wir nach dem unnatürlichen Hoch das langsame Fallen in die Tiefe des Alltags. Aber abgesehen von den Umständen, dass aus den Ostarbeitern die Ostarbeitslosen wurden, die Scheidungs- und Selbstmordraten 1992 exorbitant nach oben schossen, verlangen wir die Euphorie der Tage um den Mauerfall zurück, auch in der Literatur.
Heiner Müller sagte kurz und knapp dazu, er sei kein Chronist und dass er Demokratie auch nicht so toll finde. Christa Wolf und Christoph Hein schrieben über die Gesellschaftsordnungen hinweg. Auch als politisch-moralische Instanz, die Idee des Kommunismus verteidigend. Was auch jeder Christ gut verstehen müsste, denn wie beschissen die Umstände auch waren/sind (Stasi, Grenztote hier und Hexenverfolgung, Religionskriege dort), die Utopie des Paradieses auf Erden steht.
Aber zurück zum Alfred Döblin Preis. Zur Lesung der Texte war nur die Boheme der Literaturkritik geladen. Aber den Preis bekam nicht wie vorher vermutet Thomas Hettche, der übrigens ein Lehrer von Volker H. Altwasser war, sondern Eugen Ruge. Der Dramatiker aus Dresden schrieb, welch Überraschung, einen Text über eine Intellektuellen-Familie, die aus Mexiko in die frühe freiheitlich-sozialistische DDR siedelt. Nun freuen sich alle Kritiker und Intellektuelle um Günter Gras,s der auch den Preis stiftete. Günther Grass gehört zu den Autoren aus dem Westen, die sich auch an dem ultimativen Wenderoman ("Ein weites Feld") versuchten. Da hat Volker H. Altwasser mit seiner Arbeiter und Bauerngeschichte, mit seiner Geschichte über einen Jungen und seine gefühlstaube Mutter keine Chance. Was hätte Brecht wohl dazu gesagt?
von Ella Schlenz
(Brecht hätte gesagt: na gut, meine erhobener-Zeigefinger-Dramatik ist spätestens 68, mit der Diskussion, ob Theater nur ein bürgerliches Nebenprodukt zur Belustigung der Elite sei, zum gekünstelten, nichtssagenden und lächerlichen Komödchen verkommen, das Prekariat inszeniert sich inzwischen selbst im Vorabendprogramm des neuen Jahrtausends und bleibt nur noch in absoluter Dummheit daseinsberechtigt.)